Berliner Bestandsaufnahmen - Fotografien und Filme von
Harald Hauswald, Jutta Matthess, Verena Pfisterer, Toni Sachs Pfeiffer
auf dem Balkon des Kreuzberg Zentrums, Adalbertstr. 96, 10999 Berlin
22. Januar – 5. Februar 2017
Die Ausstellung Berliner Bestandsaufnahmen bringt vier Fotograf*innen zusammen, deren gemeinsamer Nenner das Interesse am Alltäglichen ist. Sie dokumentierten das Berliner Leben auf der Straße oder in Hinterhöfen. Es ist ein bewahrender, fast ethnologischer Blick auf die unmittelbare Umgebung, der festhält was durch politische Umwälzungen bedroht ist: sei es die besetzen Häuser in Kreuzberg in den 70er Jahren oder das gesamte Ostberlin nach der Wende. So versammelt die Ausstellung selten gezeigte Fotografien aus den 1970 bis 90er Jahren aus dem Ost- und Westteil der Stadt und präsentiert damit eine Stadt, die gleichzeitig so
vertraut wie vergänglich ist.
Die fotografische und teilweise auch filmische Herangehensweise kann man als Bestandsaufnahme bezeichnen. Als ein Verfahren also, mit dem verschiedene Situationen des städtischen Raumes in den Blick genommen und so vergleichbar werden. Oft halten die Fotograf*innen ähnliche Motive fest: Ihr Blick galt dem Nebensächlichen und Unspektakulärem – den politischen Parolen und Malereien auf den Hauswänden, den Fassaden, den unterschiedlich geschmückten Fenstern, den Menschen auf der Straße, der Umnutzung von Stadtmöblierungen und spielenden Kinder.
Harald Hauswald (* 1954 in Radebeul) zog nach einer Fotografieausbildung nach Ost-Berlin. Schon als Heizer, Anstreicher oder Gerüstbauer lernte er das einfache Leben kennen und hat parallel zu seinen Erwerbstätigkeiten immer auch fotografiert. Die Beschäftigung als Telegrammzusteller war ideal, er verbrachte viel Zeit auf Straßen und in Hinterhöfen, die er stets auch zum Fotografieren nutzte. Seine Aufnahmen zeigen Höfe und Nischen, den normalen Alltag sowie autonome Lebensentwürfe.
Der DDR-Führung haben diese Fotos nicht gefallen. Er ist diesem Argwohn mit Humor begegnet, der in etlichen der Fotos erkennbar wird. So beispielsweise bei der Fotografie des Schriftzuges „Wohnkultur“ vor einer verfallenen Fassade oder dem Schriftzug „Wir sind umgezogen! Nach gegenüber“ in einem Schaufenster.
Von Anfang bis Mitte der 70er Jahre fotografierte Jutta Matthess das Leben auf Berliner Straßen, vor allem in Schöneberg und Kreuzberg: Feste, Konzerte, spielende Kinder, Straßen- und Hinterhofszenen. Kreuzberg befand sich zu dieser Zeit in einem Wandlungsprozess. Im Rahmen der Kahlschlagsanierung und zahlreicher geplanter Neubauten sowie einer Autobahn durch den Bezirk wurden Altbauten abgerissen. Die Möbel aus dem zum Abriss freigegebenen Häusern landeten oft auf der Straße. Erwachsene verwendeten sie als Brennholz. Kinder nutzten den Müll, um darin zu spielen.
Neben etlichen Fotografien hat sie einen Normal 8 Film produziert. Sie bewegte sich mit der Kamera durch die Straßen, filmte dabei Kinder auf Spielplätzen, in Leiterwagen sitzend und vor Kaugummiautomaten sowie Passanten, die im Sperrmüll kramen.
Ab den späten 60er bis in die 90er Jahren war Verena Pfisterer (* 1941 in Fulda + 2013 in Berlin) mit der Kamera in Berlins unterwegs – vor allem im Westteil der Stadt, nach 1989 auch im Osten. Sie fotografierte Straßenszenen, Hinterhöfe, Müll, Fundstücke, Reklame und Schaufenster kleiner Ladengeschäfte und Häuserfassaden mit bröckelndem Putz oder solche, die mit Fassadenmalereien oder
Parolen beschrieben sind. Ihr Interesse galt dabei dem scheinbar Nebensächlichen, Trivialen und Alltäglichen. Im Jahr 2006
veröffentlichte sie ihre Publikation Fotografie und Alltag, die in engem Zusammenhang mit ihrem fotografischen Schaffen steht. Darin beschreibt sie, wie sie die Fotografie als Erkenntnisinstrumentarium nutzte, mit dem sie die „Umwelt, alltägliche Dinge, alltägliche Situationen, den alltäglichen Menschen aus dem Verborgenen“ herauszuheben suchte. Mittels ihrer Kamera versuchte sie sich der Faszination der „Kleinwelt“ der Dinge zuzuwenden und bezieht sich in diesem Zusammenhang auf Susan Sonntag, die schrieb „Kein Augenblick ist bedeutender als irgendein anderer, kein Mensch interessanter als jeder andere.“1
Eine Auswahl ihrer Fotos wurde 2009 in dem Text- und Bildband war jewesen, West-Berlin 1961-1989 veröffentlicht.
Toni Sachs Pfeiffer (* 1942 in New York City; † 2005 in Berlin) studierte Literatur- und Religionswissenschaften sowie Regie in den USA. Später erstellte sie in verschiedensten Städten, wie Bonn, London, New York und Berlin sozialräumliche Nutzungsanalysen. In diesem Zusammenhang ist ihre Publikation Nutzungsspuren Berlin – Kreuzberg 1988 entstanden. Neben Interviews mit Bewohner*innen sind darin zahlreiche ihrer Fotografien, die sie als Mittel der Dokumentation und als Bestandsaufnahme ihrer Forschungsarbeit beschreibt, veröffentlicht. Durch „Momentaufnahmen assoziativ verknüpfter Eindrücke“, will sie „Erkenntnisse
über diese vielfältig miteinander verwobene Erlebniswelt“ festhalten.2 Sie forderte, Nutzungsspuren nicht als Zeichen von Verwahrlosung, sondern vielmehr als Zeichen des Engagements von Bewohner*innen zu verstehen.
Neben geschätzten 200 000 Fotografien hat Toni Sachs Pfeiffer etliche Filme produziert. Um das Nutzungsverhalten der Bewohner*innen zu analysieren und in stadtplanerische Fragestellungen einfließen zu lassen, hat sie die Nutzer*innen per Zeitrafferaufnahmen gefilmt und damit einmalige Dokumentationen urbanen Lebens geschaffen.
Text: Silke Nowak, Anna-Lena Wenzel
1 Susan Sonntag, Über Fotografie, Frankfurt/Main, Fischer Verlag, 1984, S. 32
2 Vgl. Toni Sachs Pfeiffer, Nutzungsspuren Berlin – Kreuzberg, Berlin, Ästhetik und Kommunikation Verlags-GmbH, 1988, S. 8